Das Gedenken an das Kriegsende

Seit dem Ende der Sowjetunion fanden in Russland viele Jahre am 9. Mai keine Militärparaden mehr statt. Meine Eindrücke in St. Petersburg, wo ich lebte und arbeitete, waren: Die Menschen gedachten im Familien- und Freundeskreis der Toten und der Opfer. Der Umzug auf dem Newskij-Prospekt, den hunderttausende verfolgten, jedoch mutete wie ein großes Volksfest an. Die Menschen waren fröhlich, Mädchen schenkten stolzen und strahlenden Veteranen lächelnd Blumen. Dies war zu Beginn unseres Jahrhunderts.
Seit 2008 – und erst seit diesem Jahr – wird der 9. Mai wieder mit einem militärischen Aufmarsch auf dem „Roten Platz“ in Moskau begangen. Nicht nur, aber auch. Am 65. Jahrestag des Kriegsendes 2010 nahmen Soldaten aus 13 Ländern an der Parade auf dem „Roten Platz“ teil. Das war nicht einmal zwei Jahre nach dem Kaukasuskrieg vom August 2008, für den im Westen weitgehend Russland verantwortlich gemacht wurde.
(Zur Vorgeschichte, dem Verlauf und den Hintergründen des Kriegs s.
http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-kaukasuskrieg-vom-august-2008-die-vorgeschichte-1-teil-2/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-kaukasuskrieg-vom-august-2008-die-vorgeschichte-2-teil/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-kaukasuskrieg-vom-august-2008-die-vorgeschichte-3-teil/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-kaukasuskrieg-vom-august-2008-die-vorgeschichte-4-teil/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/die-motive-der-russlands-und-georgiens-im-konflikt-um-sudossetien-und-abchasien/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/691/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-krieg-vom-august-2008-2/; http://www.cwipperfuerth.de/2013/08/der-krieg-vom-august-2008-ein-resumee/)

Folie1

(http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5f/2010_Moscow_Victory_Day_Parade-7.jpeg, nach: http://www.kremlin.ru/events/president/news/7686)

Zum 70. Jahrestag blieben die führenden Vertreter des Westens fern. Bundesaußenminister Steinmeier und die Bundeskanzlerin begaben sich jedoch kurz vor bzw. unmittelbar nach dem 9. Mai nach Russland.
US-Außenminister Kerry hat sich vor wenigen Tagen – erstmals seit zwei Jahren – wieder in Russland zu Gesprächen aufgehalten. Es gibt einige ermutigende Indizien, dass ein Austausch gesucht wird. Gleichwohl: In den vergangenen 15 Monaten wurden viele Gesprächskanäle aufgegeben. Und am 9. Mai eine große Chance verpasst.
Wenn man einer aktuellen Umfrage Glauben schenken soll (wozu ich neige), dann ist für die Mehrzahl der Russen der 9. Mai ähnlich wichtig wie ihr eigener Geburtstag. Auch die meisten russischen Kritiker des Kreml (wie etwa Michail Gorbatschow) deuteten das Fernbleiben der westlichen Spitzenpolitiker als Zeichen mangelnden Respekts vor den Opfern und Leistungen der Menschen der Sowjetunion.
Es wäre verständlich gewesen, wenn westliche Politiker aufgrund der tiefgreifenden politischen Meinungsunterschiede der seit Jahrzehnten beispiellos umfassenden militärischen Machtdemonstration – bzw. Verteidigungsbereitschaft Russlands – ferngeblieben wären. Nach offiziellen Angaben nahmen 85.000 russische Soldaten an den Paraden in 150 Städten teil, die sich von Baltijsk an der Ostsee bis Wladiwostok am Pazifik erstreckten.
Es wäre jedoch angebracht und notwendig gewesen, an einem Empfang im Kreml teilzunehmen und der Toten zu gedenken. Zum einen aufgrund der Gesten an sich. Für Russen sind die Kontroversen um die Ukraine und der 9. Mai qualitativ und quantitativ völlig unterschiedlich.
Ich war immer wieder berührt über das, trotz der schrecklichen Vorbelastung, positive Deutschlandbild der Russen. Wie kann man das erklären, auch wenn man einen Blick auf das Image meines Landes in einigen unserer Nachbarländer wirft? Vor über drei Jahren habe ich geschrieben:
„Russen haben sich in Jahrhunderten die Haltung angeeignet, scharf zwischen der Bevölkerung und der Führung des Landes zu unterscheiden. Diese Kluft gilt zuallererst für das eigene Land, hat aber auch Auswirkungen auf den Blick auf andere Staaten. Denn nicht zuletzt aufgrund dieser Ursache gibt es in Russland praktisch keine Vorbehalte gegen Deutschland oder die Deutschen. Es gibt keine Neigung mit historischen Belastungen zu argumentieren, um den Partner zu bestimmten Handlungen zu veranlassen, anders als tendenziell in den westlich von Russland liegenden Ländern. Folglich rufen historisch begründete Vorbehalte oder Aversionen gegenüber Russland, etwa in Ostmitteleuropa, tendenziell eher Unverständnis oder Gereiztheit als ein latent schlechtes Gewissen hervor.
Russland zeigt auch – und vielleicht insbesondere – keine Neigung zu einem Schuldbewusstsein, weil es dieses von anderen grundsätzlich auch nicht fordert.“
(Den gesamten Beitrag finden Sie unter: http://www.cwipperfuerth.de/2012/03/russland-und-die-historische-schuld/)

Zum anderen wäre ein Moskauaufenthalt westlicher Spitzenpolitiker am 9. Mai eine Gelegenheit gewesen unter der Wahrung der Würde aller Beteiligten in ein konstruktives Gespräch zu kommen. Die Einladung Präsident Putins zur Invasion in der Normandie im Juni 2014 war im Westen höchst umstritten gewesen. Sie hat jedoch die Bildung des „Normandie-Formats“ aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine ermöglicht, das „Minsk“ zustande brachte, der einzigen realistischen Chance auf ein Ende des Blutvergießens.
Der Westen und Russland haben sich aufgrund des 9. Mai weiter voneinander entfernt, während die Staatsoberhäupter der „BRICS“-Länder aus Brasilien, China, Indien und Süd Afrika anwesend waren.