Die Motive Russlands und Georgiens im Konflikt um Südossetien und Abchasien

Mit der „Spionageaffäre“ vom Herbst 2006 war das russisch-georgische Verhältnis vollends zerrüttet. Vertreter beider Länder sprachen kaum noch miteinander, als vielmehr übereinander. Und das in gewöhnlich betont unfreundlicher Manier. Russland wartete auf eine neue, gesprächsbereite Führung in Tiflis. Georgien versuchte, den Westen noch weiter auf seine Seite zu ziehen, um Moskau so unter Druck zu setzen, dass es freie Hand in Abchasien und Südossetien erhält.

In den vorhergehenden vier Beiträgen wurde die Entwicklung zwischen Herbst 2003 und Herbst 2006 nachgezeichnet. Jetzt geht es darum, die Motive von Russland und Georgien herauszuarbeiten und zu beurteilen.

In der nächsten Analyse wird es um die Motive des Westens gehen, danach um den Ausbruch und Verlauf des Kriegs im August 2008. Im letzten Beitrag um die Entwicklung seitdem und die Nachwirkungen. Auch diese Teile werden in den kommenden Tagen folgen.

Wie verhielt sich Russland gegenüber Abchasien und Südossetien?

Abchasien und Südossetien wurden (bis August 2008) von keinem Land der Welt anerkannt, auch nicht von Russland. Moskau und Tiflis waren sich einig, dass die beiden Gebiete völkerrechtlich Teil Georgiens sind. Russland hielt sich auch an die Sanktionen, die in den 1990er Jahren gegen Abchasien und Südossetien verhängt worden sind. Die Wirtschaftsblockade war auf Betreiben sowohl von Georgien als auch von Russland von der GUS verhängt worden. Alle Festnetz- und Mobiltelefonate aus Abchasien wurden beispielsweise über Tiflis geleitet. Russland verkaufte aus Sanktionsgründen kein Öl nach Abchasien, das dieses aus Rumänien bezog.

Andererseits: Die Gültigkeit der sowjetischen Pässe lief in den 1990er Jahren nach und nach aus. Abchasische und südossetische Pässe wurden international jedoch nicht akzeptiert, sodass die Behörden der Gebiete zunächst bei der UNO um die Möglichkeit für die Menschen ersuchten, die Grenzen der Sezessionsgebiete zu überschreiten. Georgien verweigerte die hierfür notwendige Zustimmung, und seit dem Jahre 2000 gab Russland an die Bewohner der Gebiete eigene Pässe aus. Georgien bezeichnete dies als Annektion durch „Passportisierung“. Die Glaubwürdigkeit einer Neutralität Russlands im Konflikt zwischen den abgespaltenen Gebieten auf der einen und Georgien auf der anderen Seite hat dadurch erheblich gelitten.

Die Bewohner Abchasiens und Südossetiens mochten sich jedoch weder mit Georgien identifizieren, noch sich mit georgischen Dokumenten ausweisen. Eine Weigerung hätte für die Menschen in den Sezessionsgebieten jedoch zu erheblichen Nachteilen geführt. Die eine der beiden Konfliktparteien sah sich folglich erheblich unter Druck, die andere jedoch entscheidend gestärkt. Somit wäre die Gefahr eines erneuten Waffengangs angestiegen. Darum kann man, trotz einiger Zweifel, von folgender Deutung ausgehen: Russland wollte keine deutliche Schwächung der Verhandlungsposition der abgespaltenen Gebiete, um die Bereitschaft von Georgien zu Gesprächen und Kompromissen zu erhalten und zu stärken. Bis zur Machtübernahme Saakaschwilis – und teils noch danach – sah es danach aus, dass diese Strategie Erfolg haben könnte: Es wurde kein Blut vergossen und es fanden Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien statt.

Welche Motive bewegten die russische Abchasien- und Südossetienpolitik?

Die georgische Position war eindeutig, auch vor Saakaschwili: Ohne russische Hilfe hätten Südossetien und Abchasien sich Anfang der 1990er Jahre nicht von Georgien abspalten können, und ohne die Unterstützung aus Moskau hätten sie sich nicht halten können. Moskau habe Tiflis unter Druck setzen wollen, um Georgien dauerhaft in den eigenen Einflussbereich zu zwingen. Dieses Motiv spielte und spielt mit Sicherheit eine Rolle, es mag zu Beginn der 1990er Jahre auch großes Gewicht besessen haben, es scheint mir aber nicht ausschlaggebend für die Politik des Kreml zu sein. Ihn bewegt vielmehr folgendes:

Die Situation in Abchasien und Südossetien hat starke Rückwirkungen auf die Situation im russischen Nordkaukasus. Die Abchasen sind verschiedenen Völkern in diesem Gebiet eng verwandt, und das Volk der Osseten lebt beiderseits der Grenzen. Insgesamt haben die beiden abgespaltenen Ethnien etwa 1,4 Mio. „Verwandte“ im russischen Nordkaukasus. Hierzu zählen die Bewohner in den russischen Teilrepubliken Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien und Adygeja.

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(Quelle: Karte: Don-kun, Lizenz: Creative CommonsAttribution-Share Alike 3.0 Unported  / Kurz)

In Nordossetien, das etwa zehnmal so viele Einwohner hat wie Südossetien, kam es während des georgischen Angriffs auf Südossetien im Jahre 2004 bereits zu Demonstrationen. Der Kreml konnte aus innenpolitischen Gründen nicht das Risiko eingehen, bei nordkaukasischen Völkern den Eindruck zu erwecken, „Brüder und Schwestern“ dem „Feind“ zu überlassen. Tausende Freiwillige aus dem russischen Nordkaukasus kämpften bereits Anfang der 90er Jahre gegen die georgische Seite. Das würde sich in einem neuen Krieg wiederholen.

Der Kreml musste auch fürchten, dass bei einem erneuten Waffengang auch ein anderer, vielleicht noch brisanterer „eingefrorener Konflikt“ in eine Krieg übergeht: Die Kontroverse zwischen Armeniern und Aserbaidschanern um Bergkarabach (die dunkel- bzw. hellbraun markierten Gebiete gehören völkerrechtlich zu Aserbaidschan, sind jedoch von Armeniern besetzt):

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(Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cd/Nagorno-Karabakh_Occupation_Map.jpg)

Der Erfolg oder Misserfolg der georgischen Politik gegenüber Russland wurde und wird im gesamten GUS-Raum und darüber hinaus aufmerksam verfolgt: Inwiefern ist es möglich, den Kreml in die Enge zu treiben und zu weitgehenden Konzessionen zu nötigen? Welche Konsequenzen hat eine antirussische Politik? Inwiefern ist der Westen bereit, sich zu positionieren? Russland sah sich versucht – oder genötigt – zumindest mitunter große Härte gegenüber Tiflis zu demonstrieren, um nicht in der gesamten Region noch stärker in die Defensive zu geraten. Potenzielle Verbündete oder Widersachen Moskaus achteten darauf, ob Russland den Mut besitzt, einen Konflikt durchzustehen. Moskau musste einen kaum wiedergutzumachenden Gesichtsverlust befürchten, wenn der Eindruck entstünde, dass der russische Bär sich selbst von einem kleinen Nachbarn an der Nase durch die Manege führen lässt.

Welche Lösung strebte der Kreml an?

Dem Kreml konnte weder an der Unabhängigkeit der abgespaltenen Gebiete oder gar ihrer Einverleibung durch Russland noch an einer Vereinnahmung der Gebiete durch Georgien gegen den Willen der dortigen Bewohner gelegen sein. Russland hatte offensichtlich Interesse an einer Entspannung der Situation und einer mittelfristigen einvernehmlichen Lösung. Russland wünschte, Statusfragen erst einmal hintanzustellen und sich praktischen Problemen zuzuwenden, um die Lebensbedingungen der Menschen in der Region zu verbessern und ein Klima des Vertrauens zu schaffen. Erst dies könne in Zukunft Grundlage für die Lösung der völkerrechtlichen Fragen sein, so der Kreml. Er wünschte die Wiederaufnahme und Intensivierung der Gespräche zwischen Georgien auf der einen sowie Abchasien und Südossetien auf der anderen Seite. Russland wollte keine Verantwortung übernehmen für die Lösung der separatistischen Konflikte, sondern schlug vertrauensbildende Maßnahmen und Gewaltverzichtsabkommen zwischen den drei beteiligten Seiten vor unter Einbindung der OSZE und der UN.

Der Kreml wies Anschuldigungen zurück, Russland pflege den Status quo in den Konflikten und setze Georgien unangemessenen Widerstand entgegen, die abgespaltenen Territorien wieder mit dem eigenen Staatsgebiet zu vereinen. Die russische Antwort war: Niemand wisse, wie man diese Konflikte lösen könne, die Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes sei folglich das geringere Übel. „Allein schon die Bezeichnung ‚eingefrorene Konflikte‘, die ständig verwandt wird, um uns zu kritisieren, ruft Erstaunen, wenn nicht Verärgerung hervor“, so Sergei Karaganow, der damalige Vorsitzende des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. „Was, will sie irgendjemand auftauen?“, so fragt er.

Der kremlnahe Politologe Sergei Markow stritt 2006 nicht grundsätzlich ab, dass die russische Seite, obwohl sie als Vermittler fungiere, die Abchasen bzw. Südosseten bevorzuge. „Aber Russland hat nicht die Möglichkeit ergriffen, die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anzuerkennen. Seit 15 Jahren tut Russland sein Bestes, dies zu verhindern. Russland versucht, den Konflikt in einem ‚eingefrorenen Zustand‘ zu erhalten und eröffnet Georgien deshalb die Möglichkeit, den Konflikt auf zivilisierte Art und Weise zu lösen.“

Russland hatte zudem kein Interesse daran, das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker, auf das Abchasien und Südossetien pochten, über dasjenige der territorialen Integrität der Staaten zu erheben. Es müsste in diesem Fall mittelfristig um seine Präsenz im Nordkaukasus fürchten. Der Anteil der Russen an der Bevölkerung hatte sich in dieser Region seit 1989 signifikant vermindert.

Die russische Politik zielte auf einen Kompromiss: Südossetien und Abchasien kehren in den georgischen Staatsverband zurück, wobei ihnen eine substanzielle Autonomie garantiert und die wirtschaftlichen Interessen Russlands gewahrt werden. Eine Einigung müsste Russland die Gesichtswahrung ermöglichen und den Eindruck eines geopolitischen Rückzugs vermeiden.

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(Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/32/

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Moskau hielt bis zum August 2008 daran fest, dass die abgespaltenen Gebiete völkerrechtlich ein Teil Georgiens seien. Russland arbeitete bis 2008 aber reibungslos mit dem EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus zusammen. Auch während der „Spionagekrise“ gab es keinerlei Anzeichen, dass Russland seine sehr umfangreichen Elektrizitäts- und Gaslieferungen an Georgien einstellen könnte.

Moskau hat aber in den Jahren nach 2004 seine Beziehungen mit den abtrünnigen Gebieten erheblich intensiviert. Die Präsidenten Abchasiens und Südossetiens wurden offen im russischen Außenministerium empfangen und es wurden zweiseitige Vereinbarungen über ökonomische Fragen auf Regierungsebene unterzeichnet. Dieses Vorgehen war rechtswidrig und provokativ. Diente es lediglich dazu, den Verhandlungsprozess wieder in Gang zu bringen? Hierzu durfte aus Moskauer Sicht das Machtungleichgewicht zwischen Georgien auf der einen und den abgespaltenen Gebieten auf der anderen Seite nicht zu groß werden. Tiflis müsse, so habe sich gezeigt, zu Gesprächen genötigt werden, sonst setze es lediglich auf Druck, wenn nicht Gewalt, so Moskau. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass bereits nach dem August 2004, nach dem Versuch der Eroberung Südossetiens durch Georgien, Kräfte in Russland erstarkten, die eine Vereinigung Abchasiens und Südossetiens mit Georgien grundsätzlich ablehnten. Eine solche Haltung widerspräche zwar russischen Interessen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass die Politik eines Landes weniger von Kalkül als von Emotionen bestimmt wird.

Und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich nicht nur Washington vom Kleinen instrumentalisieren ließ, sondern auch Moskau von Abchasien und Südossetien, die keine Rückkehr in den georgischen Staatsverband, sondern die Unabhängigkeit wollten.

Welche Absichten verfolgte die georgische Führung?

Georgien erstarkte unter der zupackenden Wirtschafts- und Antikorruptionspolitik Präsident Saakaschwilis, die vom Westen massiv unterstützt wurde. Die Führung in Tiflis nutzte dies jedoch nicht für konstruktive Ansätze zur Lösung der „eingefrorenen Konflikte“. Saakaschwili versuchte die Russen wiederholt zu unangemessenen Handlungen zu provozieren, damit sie ihre Glaubwürdigkeit als Friedenskraft und Mediator verlieren. Angespannte Beziehungen zwischen dem Westen und Russland waren ihm gerade recht, um sich und sein Land in umso hellerem Licht erscheinen zu lassen. Die kremlkritische „Moscow Times“ schrieb kurze Zeit nach Beendigung der „Spionagekrise“ Anfang Oktober 2006: „Der Konflikt ist in jedem Stadium nicht durch Russland dominiert worden, sondern durch Saakaschwili, und am Ende bekam er, was er wollte. Er zeichnete Russland als äußerst unangenehmen Nachbarn, einen, der sich für Spionage leicht verurteilen lässt und hysterisch wird, wenn er mit heruntergelassenen Hosen erwischt wird.“

Saakaschwili wollte Russland dazu nötigen, sich wie ein Feind zu verhalten, und es ist ihm gelungen. Für das provokative Verhalten Georgiens in den Jahren seit 2004 dürfte es in der internationalen Politik der vergangenen Jahrzehnte kaum ein weiteres Beispiel geben.

Tiflis strebte offensichtlich keine Verhandlungslösung um die Sezessionsgebiete an, sondern wollte mit harten Druck und Gewalt schnelle Lösungen erreichen. Dies hat bereits vor dem August 2008 viele Menschenleben gekostet. Aber Saakaschwili konnte sich auf ein erfolgreiches Beispiel stützen: Die sogenannte „Kraina“ war völkerrechtlich betrachtet ein Teil Kroatiens, aber von Serben besiedelt, die nach dem Zerfall Jugoslawiens versuchten, eigene Wege zu gehen. Die kroatische Armee vermochte es jedoch, das abtrünnige Gebiet in einem Überraschungsangriff zu überwältigen. Von den ehemals 350.000 Serben, die in Kroatien lebten, sind gerade einmal 123.000 zurückgekehrt.

Die georgische Führung betonte wiederholt, dass Russland die Unabhängigkeit des Landes eliminieren wolle. Es ist unwahrscheinlich, dass sie selbst an diese Worte glaubte, allein schon ihre offensive Politik spricht dagegen.