Der Kaukasuskrieg vom August 2008 – Die Vorgeschichte – 4. Teil

Saakaschwili konnte im Spätsommer 2006 mit den Erfolgen seiner Strategie, die sowohl auf Täuschung als auch Eskalation beruhte, zufrieden sein: Adscharien und das Kodorital unterstanden wieder der georgischen Zentralgewalt und der Westen zeigte eine anhaltende und eher zunehmende Bereitschaft, sich von ihm instrumentalisieren zu lassen. Noch im Juni 2006 hatten Deutschland und Frankreich die Aufnahme eines von den USA befürworteten „erweiterten Dialogs“ mit Georgien verhindert, der das Land der NATO-Mitgliedschaft näher gebracht hätte. Im Herbst 2006 jedoch beschlossen die Außenminister der NATO-Staaten am Rande der UN-Vollversammlung, den Dialog mit Georgien zu beschleunigen, um das Kaukasusland im Jahre 2007 aufnehmen zu können. Deutschland und Frankreich hatten dem Drängen der USA nachgegeben.

Folie1

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/54/Saakaschwili_

Bush_Soldaten.jpg)

 

Die georgische Seite sah sich darum vermutlich veranlasst, an der Eskalationsschraube weiterzudrehen: Am 27. September nahmen georgische Polizisten in US-amerikanischen Uniformen vier Offiziere der russischen Armee und zehn Georgier fest. Erstere wurden in den folgenden Tagen wiederholt im Fernsehen des Landes präsentiert. Russland beschuldigte georgische Stellen darüberhinaus, sieben russische Soldaten „verprügelt“ zu haben, was Tiflis abstritt. Die georgische Polizei umstellte mehrere Tage das Hauptquartier der russischen Südkaukasustruppen in Tiflis, da sich dort ein weiterer Verdächtiger versteckt halte. Verteidigungsminister Sergei Iwanow bezeichnete das georgische Vorgehen als „vollkommen wild und hysterisch“ und sprach den Georgiern „sein Mitgefühl aus“, da die Politik des Landes seines Erachtens „darin besteht, die Konfrontation auf die Spitze zu treiben“.

Folie2

(Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/49/Msc_2009-Friday%2C_16.00_-_19.00_Uhr-Dett_005_Kissinger_Ivanov_Ischinger.jpg)

Der georgische Innenminister sagte, die vier russischen Offiziere hätten spioniert, um Informationen über die georgische Armee zu sammeln. Georgien warf den Russen zudem Terrorismus vor. Sie seien die Organisatoren eines Anschlages auf eine georgische Polizeistation mit drei Toten und zahlreichen Verletzten 2005 gewesen und hätten weitere Akte des Terrorismus und der Sabotage verübt. Russland stellte die Ausgabe von Visa ein und begann mit der Evakuierung eines Großteils seines Botschaftspersonals. Zu allem Überfluss besuchte der georgische Präsident die Kodorischlucht, was die Spannungen weiter anheizte.

Okruaschwili erklärte zu den Verhaftungen: „Wir haben ein Spionagenetzwerk in Georgien eliminiert. Und wir haben auch ein politisches Ziel erreicht, das wir in den vergangenen drei Jahren nicht zu erreichen vermocht haben: Die ganze Welt … sah, dass die Konflikte um Abchasien und Südossetien nicht ethnische Auseinandersetzungen sind, sondern Konflikte zwischen Georgien und Russland.“

Der georgische Innenminister Wano Merabischwili, der vermutlich zweitmächIvane_Merabishvilitigste Mann des Landes, sagte: „Heute hat die ganze Welt gesehen, dass Russland einfach ein gewöhnlicher hilfloser Staat ist, der Mythos seines machtvollen Geheimdienstes und seiner Allmacht wurde zerstört und ist nun Geschichte. Es ist für die Russen natürlich besonders schmerzvoll, dass ihnen dieser Schlag von Georgien versetzt wurde.“

(Quelle für das Bild von Merabischwili: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8e/Ivane_Merabishvili.jpg)

Die russische Seite war der Ansicht, Saakaschwili müsse sich bei seinem Vorgehen der US-amerikanischen Unterstützung sicher sein. Zumindest dürfte er sich durch den Erfolg in New York wenige Tage zuvor ermutigt gefühlt haben. Der Sprecher des US-Außenministeriums betonte, dass die USA Freunde sowohl des georgischen als auch des russischen Volkes und ebenso sowohl der georgischen als auch der russischen Regierung seien. Washington fürchtete eine Eskalation und nahm (zunächst) eine neutrale Position ein.

Georgien veröffentlichte ein Video, dass die Spionageaktivitäten der vier Russen belegen sollte. Für die Zukunft wurde die Publikation weiterer Materialien angekündigt, die auch die Verwicklung der vier Beschuldigten in den Bombenanschlag beweisen sollten. Russland bezeichnete die gezeigten Video- und Tonaufnahmen, die eine Geldübergabe zwischen den beschuldigten Russen und Georgiern belegen sollten, als Fälschung.

Fünf Tage nach der Verhaftung nannte Präsident Putin das georgische Vorgehen einen Akt des „Staatsterrorismus mit Geiselnahme“. Die oppositionelle Zeitung „Kommersant“ zitierte eine Quelle im russischen Verteidigungsministerium, dass die Diplomatie ihre Möglichkeiten erschöpft habe und eine militärische Aktion gegen Georgien nicht ausgeschlossen werden könne. Russland stoppte den Abzug seiner verbliebenen Soldaten aus Georgien, und ihr Kommandeur kündigte an, dass sich seine Truppen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich todbringender Schüsse, gegen Provokationen zur Wehr setzen werden. Die russische Kriegsdrohung war deutlich.

Außerdem beklagte die russische Seite, dass ihr, trotz eines offiziellen Antrags der Botschaft, nur ein einziges Treffen mit den beschuldigten Russen gewährt wurde. Die Sitzung des georgischen Gerichtes, auf der die vier zu zwei Monaten Untersuchungshaft verurteilt wurden, war, entgegen georgischen Gepflogenheiten, für die Medien geschlossen, weil die Angeklagten „eine Erklärung für die Presse“ planten. Der georgische Verteidigungs- und der Innenminister erklärten, dass mehrere weitere von Russland gesteuerte Agentengruppen in Georgien agierten, und dass „georgische Verräter“ eine noch größere Gefahr für das Land darstellten als ausländische Spione. – Georgien befand sich kurz vor wichtigen Wahlen. Die Oppositionsparteien stellten sich in Anbetracht der aufgeheizten Stimmung hinter die Regierung oder rieten zurückhaltend zur Mäßigung.

Russland stellte am 2. Oktober den Personen-, Güter- und Postverkehr mit Georgien ein. Wenige Stunden später händigten georgische Stellen die vier mit Handschellen gefesselten Russen der OSZE vor laufenden Fernsehkameras aus. Präsident Saakaschwili versprach, ihr Beweise für die Straftaten der vier Russen zur Verfügung zu stellen.

Der OSZE-Vorsitzende Karel de Gucht forderte die russische Seite nach der Freilassung nachdrücklich dazu auf, zur Reduzierung der Spannungen beizutragen. Die Präsidenten Russlands und der USA besprachen den russisch-georgischen Konflikt am Telefon, und Putin warnte Bush, dass „dritte Länder“ keine Schritte unternehmen sollten, Georgien in seinem „destruktiven“ Verhalten zu ermutigen.

Russland nahm den Abzug seiner Soldaten aus Georgien beschleunigt wieder auf, und Präsident Putin legte der Duma das Abkommen über die Auflösung der russischen Basen vor. Dieses wurde vom Parlament trotz erheblicher Kritik umgehend ratifiziert. Der stellvertretende Außenminister Russlands Alexander Jakowenko wandte sich am 5. Oktober in geradezu bittendem Ton an Georgien: „Russland will nicht provoziert werden, Russland will respektiert werden. Russland will, dass die antirussische Kampagne aufhört.“

Wenige Tage nach der Freilassung der vier beschuldigten Russen fanden in Georgien Kommunalwahlen statt. Die Wahlbeteiligung lag bei nur etwa 40%, die Regierungspartei errang 77% der Stimmen und erhielt 95% der Sitze. Vertreter der Opposition klagten über starken Druck, der im Vorfeld auf sie ausgeübt worden sei. Auch die OSZE stellte Mängel in der demokratischen Qualität des Urnengangs fest. So war die Opposition in den Wahlkommissionen nicht vertreten gewesen.

Russland begann mit Strafaktionen. Es stellte die Vergabe von Visa an Georgier ein und machte keine Ausnahmen von dieser Regel. Selbst dem Chef des georgischen Interpolbüros wurde die Einreise zu einem GUS-Regionaltreffen in St. Petersburg verweigert – ein beispielloser Vorgang. Und nicht nur das: Sämtliche Verbindungen auf dem Land-, See- und Luftwege nach Georgien waren gekappt. Kinder georgischer Bürger wurden aufgefordert, die Schule der russischen Botschaft in Tiflis zu verlassen. Für die hunderttausenden in Russland arbeitenden Georgier, die ihre Angehörigen im Heimatland unterstützen wollten, entstand eine schwierige Situation, denn Russland untersagte auch den Geldtransfer nach Georgien.

Und die Lage spitzte sich weiter zu: Russland sah sich soweit provoziert, dass der Verstand ausgeschaltet wurde und man auf alte, überholt geglaubte Methoden zurückgriff: Plötzlich glaubte man zu entdecken, dass ein Casino in Moskau einem „Gangster“ aus Georgien gehörte, georgische Restaurants ihre Steuern nicht zahlten und das georgische Kulturzentrum in Moskau hartnäckig Hygienevorschriften verletzte. Der Radiosender „Echo Moskwy“ erhielt Kenntnis von einem Dokument St. Petersburger Behörden, in dem Anweisungen gegeben wurden, wie viele Georgier täglich unter welchen Beschuldigungen aufzugreifen seien. In der ersten Oktoberhälfte wandten sich täglich hunderte in Russland lebende Georgier Hilfe suchend an Menschenrechtsorganisationen.

Es gab Anzeichen dafür, dass die antigeorgische Kampagne Mitte Oktober abzuebben begann, aber noch am 21. Oktober berichtete der häufig kritische russische Fernsehsender „Ren TV“, dass sie „in vollem Gange sei“. Ebenfalls am 21.10. berichtete der staatsnahe Fernsehsender „NTV“ von einem Angriff auf eine Ausstellung, in der georgische Gemälde gezeigt wurden. Das staatliche „RTV“-Programm sendete am gleichen Tage einen Bericht über Drangsalierungen von georgischstämmigen Mitarbeitern des Senders durch die Miliz.

Die Tatsache, dass nicht nur oppositionelle, sondern auch staatsnahe und staatliche Medien kritisch über die Kampagne berichteten, war ein untrügliches Anzeichen, dass sie sich ihrem Ende näherte. Wenige Tage darauf rief Präsident Putin die Behörden dazu auf, von „ethnischen Erwägungen“ beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität abzusehen. Er argumentierte, dass im Jahre 2006 bis Ende Oktober insgesamt 5,000 Georgier des Landes verwiesen worden seien, weit weniger als Angehörige anderer Länder, die er allerdings nicht benannt. Nach offiziellen sowohl russischen als auch georgischen Angaben wurden im Oktober etwa 1.000 Bürger Georgiens aus Russland ausgewiesen, häufig unter entwürdigenden Umständen. Hinter dieser trockenen Zahl verbargen sich zahlreiche Schicksale auseinandergerissener Familien. Die antigeorgische Kampagne ist eine tragische und für Russland beschämende Episode.

Georgien legte die der OSZE angekündigten Dokumente über die Verantwortung der verhafteten russischen Offiziere nicht vor. Es sieht danach aus, dass Tiflis die Story medienwirksam inszeniert hatte, um Russland unter Druck zu setzen, weitere Zustimmung im Westen zu generieren und die Wahlen erfolgreich zu bestehen. Die Bilanz war in diesen Hinsichten recht günstig aus Sicht der georgischen Führung. Zwar wuchs in einigen NATO-Ländern das Misstrauen gegenüber Saakaschwili, aber westliche Regierungen übten keine öffentliche Kritik an der fingierten Agentengeschichte. Und die Presse hakte auch nicht nach. Falls sich die russische Seite nicht zu der beschriebenen Kampagne hätte hinreißen lassen,  wäre die Bilanz vielleicht anders zu ziehen gewesen. Der Kreml hatte sich provozieren lassen und die Nerven verloren.

Immerhin ordnete Verteidigungsminister Iwanow am 9. Oktober an, den Stab der russischen Truppen im Südkaukasus und die dazu gehörende Garnison in Tiflis bis zum Jahresende 2006 aufzulösen, also zwei Jahre früher als geplant.

Aber Russland war auch in der Lage, Georgien diplomatisch unter Druck zu setzen: Am 13. Oktober verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative Russlands die Resolution 1716 zu Abchasien. Das Gremium drückte seine Besorgnis über die jüngsten georgischen Maßnahmen im Konflikt mit Abchasien aus und erinnerte Tiflis an die Verpflichtungen, die aus dem Moskauer Waffenstillstandsabkommen von 1994 resultieren. Nach dem Bericht der UN-Beobachtermission in Abchasien vom Herbst 2006 hat Georgien seit dem Frühjahr 2006 13mal das Waffenstillstandsabkommen verletzt, Abchasien zweimal. Die Resolution bestätigte die Bedeutung der russischen Friedenstruppen in Abchasien, deren Abzug Georgien anhaltend verlangte. Georgien wurde aufgefordert, seine Truppen und Waffen aus dem Kodorital abzuziehen und den russischen Friedenstruppen und UN-Beobachtern ungehinderten Zugang zu gewähren. In der Resolution des Sicherheitsrates wurde zudem gefordert, dass Georgien einen Vertrag über die Nichtanwendung von Gewalt unterzeichnet.

Georgien reagierte mit weiterer Härte. Es weigerte sich Ende Oktober der Aufforderung des Sicherheitsrates Folge zu leisten, ein Dokument über eine Waffenruhe in Südossetien zu unterzeichnen: „Provokationen“ würden sich in diesem Falle nur häufen. Verteidigungsminister Okruaschwili wiederholte seine Ankündigung, Neujahr 2007 in Südossetien zu begehen, angesichts der politischen Rahmenbedingungen eine direkte Kriegsdrohung. Er erklärte außerdem, dass Russland eine Zuspitzung der Krise anstrebe und Georgien auf alle Eventualitäten vorbereitet sei: „Wir fürchten keinen Krieg, aber wir glauben nicht, dass wir werden kämpfen müssen, denn Russland hat ernsthafte Probleme mit seinen Verteidigungskapazitäten. Seine Armee ist ein Papiertiger, die Ausrüstung ist alt, und seine Soldaten sind nicht effektiv. Die Ereignisse in Tschetschenien haben das bewiesen.“

Russland ließ weiter öffentlichkeitswirksam seine Muskeln spielen. Einheiten der russischen Marine führten Mitte Oktober Gefechtsübungen in der Nähe georgischer Gewässer durch. Dies war der Position des Kreml unter außenpolitischen Gesichtspunkten abträglich. Die Führung des Landes wollte wahrscheinlich den Bürgern Russlands demonstrieren, dass der Kreml die Würde des Landes nachdrücklich zu verteidigen gedenkt, denn nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums äußerten 56% der befragten Russen die Überzeugung, dass die Festnahme der unter Spionageverdacht stehenden Russen in Georgien „amerikanischen Sponsoren“ geschuldet sei.