Umbruch in Russland? Eine Zwischenbilanz. Folge II

Das Ringen zwischen der Führung des Landes und der Opposition lässt sich in zwei Phasen einteilen. In dieser Analyse wird es um die vier Wochen nach Ende Dezember gehen. Die zweite Phase, die der fünf Wochen darauf, wird Gegenstands des Beitrags sein, der am 3. oder 4. März erscheint. Die Analysen bauen aufeinander auf, also diese auf der vor einer Woche erschienenen Folge I.

 

Die Führung und die Opposition. Phase I: Ende Dezember 2011 bis Ende Januar 2012

Präsident Dmitri Medwedew kündigte am 22. Dezember weitreichende Reformen des politischen Systems an. Sie sollten noch vor dem Ende seiner Amtszeit im Mai 2012 in Kraft treten.

http://www.kremlin.ru/eng/articles/bigphoto.shtml

Die Opposition war nicht besänftigt. Wenn die Neuerungen einige Monate früher in Gang gesetzt worden wären, hätte das Gros der nunmehr Demonstrierenden sie begeistert begrüßt. Ende Dezember jedoch sahen die meisten Unzufriedenen die Ankündigungen entweder als von ihnen erzwungenes Zugeständnis der Führung an, oder als nicht ernst gemeinte Finte, um die Opposition zu desorientieren und zu schwächen.

In den Tagen um die Jahreswende war von den Falken aus den Machtorganen nichts zu hören. Sie standen offensichtlich geradezu unter Schock. Erst Mitte Januar begannen sich führende Hardliner aus dem Staatsapparat vereinzelt öffentlich zu Wort zu melden. Sie forderten entweder Maßnahmen, die auf eine Einschränkung der neuen Meinungsvielfalt hinausliefen. Oder sie versuchten, die Opposition als vom Ausland gesteuert darzustellen. Die Falken wirkten ebenso zornig wie hilflos.

Die Anzeichen für eine Öffnung des politischen Systems setzten sich auch nach der Jahreswende fort. Das staatlich kontrollierte Fernsehen berichtete seit Mitte Dezember zwar noch nicht fair, aber doch deutlich ausgewogener als zuvor. Auch im Parlament verschoben sich die Gewichte: 14 der 29 Ausschüsse der neuen Duma sollen in Zukunft von Vertretern der drei kleineren Parlamentsfraktionen geleitet werden. Die Kommunistische Partei, „Gerechtes Russland“ und die (populistischen) „Liberaldemokraten“ näherten sich der außerparlamentarischen Opposition an, um ihren neuen Handlungsspielraum zu wahren und zu erweitern. Die Bürgergesellschaft begann sich verstärkt Strukturen zu geben, beispielsweise mit der „Liga der Wähler“, in der sich viele der namhaftesten Schriftsteller Russlands stark und sichtbar engagieren. Die Machtvertikale zeigte Auflösungstendenzen.

Ministerpräsident Putin unterließ weitgehend Äußerungen, die als Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber der Opposition gedeutet werden konnten. Er kündigte vielmehr am 12. Januar die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit an. Am 16. Januar erklärte er auf seiner Webseite: „Die Zeit der Restauration ist vorüber.” Am 18. bot er der „Liga“ eine Kooperation an, um Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl entgegenzuwirken.

Wenige Tage darauf gab es erstmals seit Wochen ernsthafte Anzeichen, dass die Falken ihre Handlungsbereitschaft und -fähigkeit zurückgewonnen hatten: Grigori Jawlinski, die langjährige Führungspersönlichkeit der liberal-sozialen „Jabloko“-Partei, wurde es verwehrt, als Kandidat an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Es mag dahingestellt sein, ob die formale Begründung für den Ausschluss Jawlinskis stichhaltig war. Der ganze Vorgang erinnerte jedenfalls an das aus früheren Jahren bekannte unfaire Spiel mit gezinkten Karten. Dieser Verdacht erhärtete sich. Am 24. Januar wurden der unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ regelwidrig der Vertrag für dessen Moskauer Büroräume von einem privaten Vermieter gekündigt. In einigen Städten wurden „außerordentliche Steuerprüfungen“ gegen Partner von „Golos“ durchgeführt. Die Organisation befand sich bereits seit Wochen im Fadenkreuz von Hardlinern und man kann sicher sein, dass auch Putin ihre Tätigkeit mit Misstrauen und Abneigung beobachtete.

Der „Menschenrechtsrat“ beim Staatsoberhaupt beschloss daraufhin eine Kooperation mit „Golos“ und anderen Gruppen, um faire Wahlen sicherzustellen. Zudem erklärte Medwedew, die Demonstrationen würden nicht zuletzt von denen getragen, die enttäuscht seien, dass er sich nicht erneut zur Wahl stelle. Putin hingegen brachte erstmals seit fünf Wochen in die Diskussion, dass der Präsident auch nach der Neufassung der Regeln über die Wahl eines Gouverneurs ein Vetorecht besitzen müsse. Medwedew hingegen hielt dies weder für erforderlich, noch für sinnvoll.

Die genannten Indizien deuteten auf erhebliche Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Präsidenten hin. Der Erste wollte die neue innenpolitische Dynamik zumindest deutlich vermindern, im Gegensatz zu Medwedew.

Zusammenfassend muss man feststellen: Ende Januar begann eine Phase, in der nicht mehr die Opposition die politische Agenda bestimmte, sondern die Verfechter der bisherigen Ordnung des Landes in die Offensive kamen.
Warum gewannen die Kräfte der Beharrung Ende Januar an Gewicht?

Hierfür gibt es ein ganzes Bündel von Ursachen. Heute werden zwei, strukturelle, langfristig wirkende Gründe genannt. Ich stelle hierbei Thesen auf, die ich begründe. Die folgende Liste wird im nächsten Blogbeitrag ergänzt und vertieft sowie durch aktuelle Ursachen ergänzt werden.

 

  1. Putin wird von der Mehrheit der Bevölkerung weiterhin unterstützt.

Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Land ist groß und wächst seit Jahren tendenziell an (s. hierzu insbesondere meinen Beitrag von Anfang Januar). Die kremlnahe Partei „Einiges Russland“ bekam dies bei den Wahlen vom 4. Dezember 2011 deutlich zu spüren. Auch Putins Popularität hat in den vergangenen Jahren gelitten, bewegt sich aber weiterhin auf einem beeindruckend hohen Niveau. Laut einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts schätzten 2007 67% der Befragten die Politik Putins während seiner Jahre als Präsident nach dem Jahr 2000 positiv ein. Anfang 2012 sagten dies immer noch 61%.

Vermutlich würde die Bilanz aus Sicht der Mehrheit der Bevölkerung nicht so positiv ausfallen, wenn die Energiepreise zur Amtszeit Putins nicht so stark angestiegen wären. Er konnte eine Flut von Öl- und Gasmilliarden nutzen, hatte mehr Glück als sein Vorgänger.

Das politische System Russlands war zudem unfair. Personelle oder inhaltliche Alternativen konnten sich kaum entwickeln. Große Teile der Opposition stellen fest, Putins Popularität sei das Ergebnis von Manipulationen und einer einseitige Berichterstattung. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Seit Anfang 2011, aber erst seit etwa einem Jahr, werden Fehlgriffe Putins in der Presse in nennenswertem Maße benannt und kritisiert. Man kann davon ausgehen, dass dies seinem Ansehen abträglich war. Die einseitig positive Berichterstattung scheint mir aber nicht die ausschlaggebende Ursache seiner Popularität zu sein. Haben Russen nicht seit Generationen einen Blick dafür entwickelt, dass zwischen dem nach Außen gezeichneten Bild und der Wirklichkeit ein großer Spalt klaffen kann, ja in der Regel klafft? Hierauf deutet auch das jüngste Wahlergebnis hin.

Vielleicht mag eine andere Ursache die anhaltende Beliebtheit Putins zu erklären: In Russland gibt traditionell das Phänomen, dass der „Zar“ tendenziell als „gut“ gilt und nicht für die Mängel oder Misswirtschaft im Land verantwortlich gemacht wird. (In anderen Ländern tritt es in abgeschwächter Form auch auf und wird als „Amtsbonus“ bezeichnet.) Hiervon profitiert Putin sicher. Aber auch dies scheint mir die Popularität Putins letztlich nicht zu erklären. Präsident Jelzin beispielsweise war lediglich zwischen 1990-1992 beliebt.

Der Hauptgrund für die Popularität Putins ist meines Erachtens folgender: Er vermochte es auf glaubwürdige Weise, sowohl autoritär Gesonnenen als auch Reformwilligen, sowohl Wirtschaftliberalen als auch denjenigen, die einen fürsorglichen Staat wünschen, sowohl denjenigen, die eine Annäherung an Europa und den Westen eintreten wie hartgesottenen Nationalisten zu vermitteln, dass er einen der ihren sei.

Putin wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als bloßer Hardliner wahrgenommen, anders als in der westlichen Presse. Der Oligarch Michail Chodorkowski, der in einem fragwürdigen Verfahren zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde schrieb im März 2004, ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung: „Putin ist wahrscheinlich weder ein Liberaler noch ein Demokrat, aber er ist immer noch liberaler und demokratischer als 70% der Bevölkerung.“

 

in: Der Bürger im Staat, Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Heft 4/2005

Diese Ansicht teile ich nicht. Sie könnte auch Ausdruck einer Verachtung der Masse der Bevölkerung sein, die bei Teilen des russischen Intelligenzia verbreitet ist. Gleichwohl: Die Falken finden in der Bevölkerung beträchtlichen Rückhalt. Und Putin ist vielschichtiger – oder will zumindest als vielschichtiger wahrgenommen werden – als es westlichen Beobachtern gemeinhin scheint. Während der Präsidentschaft Medwedews übernahm er stärker die Rolle des Hardliners als in den Jahren zuvor, während das Staatsoberhaupt den reformwilligen und offeneren Teil der Bevölkerung ansprechen sollte. Anfang/Mitte Dezember 2011 betonte Putin Härte. Er spürte bald, dass diese Signale nicht hinreichen. Er ergänzte sie darum mit Zeichen des Entgegenkommens. – Die zeitweise, in den ersten drei Januarwochen, sogar überwogen. Putin bediente aber auch immer wieder den Teil des Elektorats – ob auch Überzeugung oder Taktik – der keine tiefgreifenden Veränderungen wünscht oder Erschütterungen fürchtet. Dieser Teil der Bevölkerung wuchs im Januar langsam an, auch weil im Verlauf der Wochen ein strukturelles Phänomen nach und nach die Unzufriedenheit oder Empörung über die Verhältnisse im Land oder die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen teilweise überlagerte:

 

  1. Die Opposition ist für die Mehrheit der Bevölkerung nicht wählbar.

Die Kommunisten sind nach wie vor nicht in der Lage, sich von der stalinistischen Vergangenheit hinreichend zu losen. Die liberale Opposition ist nicht bereit, sich von der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu distanzieren, die sie selbst zu Beginn der 90er Jahre prägte. Diese wird von der Mehrheit der Bevölkerung – ob zu Recht oder zu Unrecht – jedoch nach wie vor abgelehnt.

 

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 22.–25. Oktober 2010 , http://www.levada.ru./press/2010112402.html, in: Russlandanalysen 212

Die beiden ernsthaftesten Konkurrenten um die Macht sind somit für die breite Mehrheit der Bevölkerung nicht wählbar.

Fortsetzung folgt