Russland: Das Ringen zwischen der Führung und der Opposition – Was ist zwischen Mitte Dezember 2011 und Mitte Januar 2012 geschehen?

In der vorhergehenden Analyse (s.u.) habe ich folgende Ansichten vertreten: Putin genießt zwar weiterhin die Unterstützung eines Großteils der Bevölkerung. Sie schwindet jedoch, nicht nur aus aktuellen, sondern noch stärker aus strukturellen Gründen, die unumkehrbar scheinen. Diese Entwicklung wurde bereits spätestens seit dem Frühjahr 2011 deutlich. Die Opposition ist beträchtlich erstarkt und hat in den letzten Wochen ebenso an Zuversicht gewonnen. Russland stehen bewegte Zeiten bevor – aber in welcher Hinsicht?
In diesem Beitrag zeige ich die Eckpunkte der Entwicklung zwischen Mitte Dezember 2011 und Mitte Januar 2012 auf. In einem weiteren Beitrag, der am 23. Januar erscheinen wird, wird die Entwicklung der vorhergehenden Tage nachgezeichnet und insbesondere diskutiert, in welche Richtung sich die Lage in Zukunft entwickeln könnte.

Die russische Führung wurde vom Ausmaß und der Dynamik der Proteste nach den Dumawahlen offensichtlich überrascht. Ministerpräsident Putin reagierte mit Entschlossenheit und zunächst mit einer gewissen Härte. Er zeigte am 15. Dezember bei einer über vierstündigen Liveübertragung, bei der er Fragen aus der Bevölkerung beantwortete, seine übliche Konzentration und keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Putin behauptete, die Demonstranten würden von Kräften außerhalb Russlands geleitet und bezahlt. Diese Ansicht wird jedoch nur von etwa einem Viertel der Bevölkerung geteilt.
Einige Tage später bezeichnete er die Oppositionsführer als „Bandar-Log“. Es handelt sich hierbei um eine Gruppe machtversessen-böswillig-verspielt-oberflächlicher Affen aus dem „Dschungelbuch“ Rudyard Kiplings, einem in Russland sehr bekannten Werk.
Zugleich betonte Putin jedoch, das bei den Protesten deutlich gewordene umfangeiche bürgerschaftliche Engagement zeuge nicht zuletzt von der erfolgreichen Modernisierungspolitik der Führung Russlands.
Von Präsident Medwedew kamen keinerlei abschätzige Bemerkungen an die Adresse der Demonstranten. Am 22. Dezember erklärte er, noch vor dem Ende seiner Amtszeit im Mai 2012 folgende Änderungen am politischen System einführen zu wollen:
1.    Die Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure.
2.    Wesentliche Erleichterungen für Parteien, sich registrieren zu lassen und an föderalen bzw. regionalen Wahlen teilnehmen zu können.
3.    Eine deutliche Lockerung der Erfordernisse, an Präsidentschaftswahlen teilnehmen zu können.
4.    Eine Erhöhung der Repräsentanz von Vertretern der Oppositionsparteien in den Wahlkommissionen.
5.    Eine deutliche Verlagerung von Entscheidungskompetenzen und Mitteln von der föderalen auf die regionale bzw. lokale Ebene.
Im Falle der Umsetzung der Ankündigungen Medwedews würde Russland an politischem Pluralismus erheblich gewinnen. Seine Worte wirkten zugleich wie ein Manifest, machten seine Entschlossenheit deutlich, auch in Zukunft eine zentrale politische Rolle spielen zu wollen.
Es kann als sicher gelten, dass Medwedew seine Initiative mit Putin abgesprochen hat, obgleich der Präsident vermutlich weiter ging als es der Ministerpräsident getan hätte. Medwedew hat nicht erklärt, warum er die Maßnahmen zur Öffnung des politischen Systems erst kurz vor dem Ablauf seiner Amtszeit vorschlug. Eine Erklärungsvariante hierfür ist, dass Medwedew dies gern früher getan hätte, sich aber hierzu aufgrund der Kräfteverhältnisse nicht in der Lage sah. Erst die Protestbewegung habe folglich ermöglicht, was Medwedew seit langem beabsichtigte. Diese Deutung hat einiges für sich. Die meisten Unzufriedenen jedoch sahen die Ankündigungen entweder als von ihnen erzwungenes Zugeständnis der Führung an, oder als nicht ernst gemeinte Finte, um die Opposition zu desorientieren und zu schwächen. Medwedew wird von den meisten, die auf eine Öffnung und Modernisierung setzten, seit der Ankündigung, seinen Platz mit Putin zu tauschen, nicht mehr als glaubwürdig bzw. nicht mehr als ernstzunehmender Machtfaktor betrachtet. Die Opposition fühlte sich folglich nicht besänftigt, sondern in ihrer Entschlossenheit bzw. ihrer Abneigung gegenüber der Führung des Landes bestärkt.
Bei der Demonstration am 24. Dezember wurde der Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny am lautstärksten begrüßt. Er hatte zuvor 15 Tage im Gefängnis verbringen müssen. Von ihm stammte die in Russland weithin bekannte Formulierung, „Edinaja Rossija“ sei die Partei der „Gauner und Diebe“.

 

 

 

Boris Akunin, dessen Romane nicht nur in Russland ein Millionenpublikum fesseln, solidarisierte sich mit den Protestierenden, ebenso wie zahlreiche weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.

 

Auch Alexei Kudrin, der zwischen 2000 und 2011 russischer Finanzminister gewesen war, hielt eine Rede.

 

Er forderte Parlamentsneuwahlen und eine „fähige Führung“ für das Land – folglich hatte es sie bislang seines Erachtens nicht gegeben. Es müsse ein Dialog zwischen der Opposition und dem Kreml einsetzen, ansonsten werde es eine Revolution geben. Wladimir Tschurow, der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission und alter Freund Putins, müsse zurücktreten.

 

Kudrin trat so auf, als ob er nie Mitglied des Establishments gewesen sei, er erntete Pfiffe. Immerhin bezeichnet auch Putin Kudrin als Freund und dieser war es gewesen, der Putin 1996 in die Kremladministration geholt hatte.

 

Der Auftritt Kudrins ist, egal wie man es dreht oder wendet, von besonderer Bedeutung:
–    Man kann ihn als Versuch der Führung deuten, die Demonstranten zu desorientieren. Dies ist denkbar. Aber auch nach dieser Deutung würde der Kreis um Putin in Anbetracht der Worte Kudrins die Lage als außerordentlich ernst einschätzen.
–    Oder man sieht die Haltung Kudrins als Anzeichen unterschiedlicher Interessen – wenn nicht gar einer möglichen Spaltung – innerhalb der Eliten, wozu ich neige. Zum Beispiel forderte auch der Menschenrechtsrat beim Präsidenten den Rücktritt Tschurows. Weitere Beispiele der deutlich divergierenden Interessen innerhalb der Eliten werden noch folgen, in diesem und weiteren Analysen.
Die Staatsmacht bekundete am 24. Dezember den deutlichen Willen, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Die Polizei hielt sich nicht nur zurück, sondern einzelne Polizisten wagten sich so weit hervor, deutlich ihre Verbundenheit mit den Demonstranten zu zeigen. Die staatlichen Fernsehsender zeigten eine neue Offenheit und berichteten breit über die Proteste.
Medwedew drängte am 28. Dezember die Präsidialverwaltung und die Duma, seine Ankündigungen vom 22. Dezember umzusetzen und setzte ihnen Fristen. Die Fraktionen in der Duma wiederum einigten sich darauf, dass 14 der 29 Parlamentsausschüsse von Vertretern der drei kleineren Fraktionen, also nicht von Edinaja-Abgeordneten, geleitet werden sollten. Auch dies musste als Anzeichen der Bereitschaft der Führung des Landes zu substanziellen Veränderung gedeutet werden.
Es meldeten sich aber auch Hardliner aus dem Staatsapparat zu Wort. So forderte ein führender Verantwortlicher aus dem Innenministerium Maßnahmen gegen die Anonymität im Internet: Soziale Netzwerke, die bekanntlich wichtige Werkzeuge der Opposition sind, könnten eine potenzielle Gefahr für die Grundlagen der Gesellschaft darstellen. Am 12. Januar wiederholte der Generalsstaatsanwalt die Behauptung, die Protestler stützten sich nicht zuletzt auf Geld aus dem Ausland.
Diese und ähnliche Stimmen waren in den Wochen nach dem 24. Dezember aber keineswegs typisch. Anfang Januar wurde bekannt gegeben, dass die führenden Mitarbeiter von Staatskonzernen, sowie ihre Familienangehörigen, in Zukunft Angaben zu ihrem Einkommen, ihrem Aktienbesitz und eventuellen Darlehen abgeben müssen. Kurz darauf wandte sich die Zentrale Wahlkommission überraschend an die Wahlbeobachtungsorganisation der OSZE (ODIHR) mit der Bitte, die Präsidentschaftswahlen im März zu beobachten. 2007 und 2008 hatte keine Beobachtung der Duma- bzw. Präsidentschaftswahlen durch die ODIHR stattgefunden. Russland hatte der Organisation eine einseitig kritische Sicht und unklare Kriterien vorgeworfen. Für die Dumawahlen vom Dezember 2011 waren Beobachter der ODIHR angereist, aber erst nach einigem Streit. Und nun lud Russland sie ein …
Wladimir Ryschkow, einer der bekanntesten langjährigen Oppositionsführer Russlands, erklärte Anfang Januar, dass die von Medwedew angekündigten neuen Regelungen für politische Parteien bereits im Februar von der Duma abschließend behandelt würden. Die angekündigten Neuerungen seien nicht ideal, sie würden das politische System Russlands aber definitiv freier machen.

 

Der russisch-orthodoxen Kirche wird häufig vorgeworfen, eine allzu große Nähe zur herrschenden Macht zu suchen oder zuzulassen. Auch darum war es von besonderer Bedeutung, dass Patriarch Kyrill I. die Behörden ausdrücklich dazu aufforderte, den Protestierenden zuzuhören. Er betrachtete sie also keineswegs als „Bandar-Log“.

 

Gennadi Sjuganow, langjähriger Parteichef der Kommunistischen Partei und Präsidentschaftskandidat, forderte am 11. Januar den Rücktritt Tschurows und eine erneute Parlamentswahl noch vor Jahresende. Die Kommunisten hatten nach offiziellen Angaben bei den Wahlen vom Dezember 2011 19,2 Prozent der Stimmen errungen. Sjuganow wandte sich gegen die wirtschaftsliberale Orientierung führender Vertreter der Oppositionsbewegung, kündigte aber an, dass sich seine Partei an der Organisation der nächsten großen Protestversammlung beteiligen werde. Sie ist für den 4. Februar geplant.

 

Auch Sergei Mironow, der Präsidentschaftskandidat von „Gerechtes Russland“, kündigte an, dass im Falle seines Wahlsiegs noch in diesem Jahr Wahlen zur Duma stattfinden werden. „Gerechtes Russland“ (Wahlergebnis vom Dezember 2011: 13,2 Prozent) hatte einige Jahre dazu gedient, den Kommunisten Wähler abspenstig zu machen und die gesellschaftliche Basis der „gelenkten Demokratie“ zu verbreitern. Mironow, ein langjähriger Gefolgsmann Putins, hatte sich bereits im Frühjahr 2011 politisch freigeschwommen.

 

Sjuganow und Mironow müssen zum einen zur Ansicht gekommen sein, dass die Forderung nach Neuwahlen ihnen weitere Stimmen bescheren könnte. Zum anderen – und vor allem – halten es beide Parteien nunmehr für angebracht und möglich, die Führung des Landes herauszufordern. Dies ist neu.
Ministerpräsident Putin zeigte Entgegenkommen. Er unterließ im Januar Äußerungen, die als Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber der Opposition gedeutet werden konnten. Putin kündigte vielmehr am 12. Januar die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit an. Der Staat solle gegenüber den Bürgern dienen und ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig sein.
Es ist offensichtlich, dass die Opposition in den vergangenen Wochen an Breite gewonnen und die Führung des Landes die politische Initiative noch nicht wiedergewonnen hat. Oder täuscht dieser Eindruck?