Will der Westen einen Regimewechsel in Russland?

Befürchtungen des Kremls gibt es seit Ende 2004. Sie haben jüngst weitere Nahrung erhalten. Der Westen stellt sich aber selbst ein Bein.

Ende 2004 wurde die ukrainische „Orange Revolution“ in der euro-atlantischen Welt nicht nur begeistert begrüßt, der Kreml ging vielmehr davon aus, dass sie vom Westen inszeniert sei. Seither treibt die russische Führung die Sorge um, dass der Westen auch in Moskau einen „regime change“ vorbereite. Sie erhielt durch den erneuten Machtwechsel in Kiew im Februar 2014, die Sanktionen oder bspw. die Berichterstattung westlicher Medien über Russland weitere Nahrung. Seit kurzem ist ein neues Stadium erreicht:

Bei den bisherigen zahlreichen Sanktionsrunden nannten die westlichen Akteure durchweg konkrete Anlässe für die verschärften Strafmaßnahmen. Dies war bei den im April 2018 verkündeten Sanktionen der USA gegen einige führende Vertreter der russischen Wirtschaft nicht mehr der Fall. US-Finanzminister Steven Mnuchin erklärte vielmehr:

Das System Russlands sei durch und durch korrupt, jeder reiche Russe sei grundsätzlich Profiteur und Stütze des Regimes. Nicht nur die politische Führung, sondern die Reichen in ihrer Gesamtheit seien somit mitverantwortlich für die weltweit negative Politik des Kremls (Ukraine, Syrien u.a.) und somit legitimes Ziel von Sanktionen. Sehen wir einmal von der Stichhaltigkeit dieser Argumentation ab, die implizite Schlussfolgerung der Worte Mnuchins lautete: Um Sanktionen zu vermeiden, die sie selbst treffen könnten, sollten die Oligarchen einen Macht- oder zumindest Politikwechsel in Moskau herbeiführen.

Überspitzt: Die USA fordern die Reichen Russlands zu einem Putsch auf.

Die Sanktionen gegen „Rusal“, den zweitgrößten Aluminiumproduzenten der Welt, schwächten die USA zwar später ab, um die globalen Turbulenzen auf dem Aluminiummarkt zu verringern. An der zentralen Botschaft änderte dies jedoch nichts: Jeder der 96 russischen Milliardäre könnte das Ziel weiterer Sanktionen sein. Der „Kremlin Report“ des US-Finanzministeriums hatte im Januar 2018 hierfür bereits die Voraussetzungen geschaffen.

Die Unternehmen der bereits sanktionierten Oligarchen verloren in der ersten Woche nach der Verhängung der Strafmaßnahmen 16 Mrd. US-Dollar an Börsenwert. Der Rubel stürzte ab und hat sich von den Verlusten seither nur zum Teil erholt, obwohl der Ölpreis weiter anzieht. Dies hatte zuvor den Kurs der russischen Währung immer gestützt.

Ende April 2018 bat der sanktionierte Wiktor Wekselberg die Regierung um Hilfen in Höhe von 5,5 Mrd. US-Dollar, um seine Unternehmen zu retten, die insgesamt 130.000 Menschen beschäftigen.

Die Kosten der Sanktionen könnten sich für Russland in den kommenden Jahren auf einen dreistelligen Milliardenbetrag summieren, v.a. in Form eines geringeren Wirtschaftswachstums: Die Finanzierungskosten der Unternehmen werden durch die Strafmaßnahmen erhöht, der Zugang zum Weltmarkt erschwert, ausländische Investitionen werden geringer ausfallen als geplant und ausländische Partner werden bspw. zurückhaltender sein Kooperationen einzugehen aus Sorge, in diesem Fall womöglich selbst Ziel von US-Sanktionen zu werden.

Haben die russischen Superreichen in den vergangenen 27 Jahren nicht demonstriert, ihre eigenen Interessen deutlich über die ihres Landes zu stellen? Sie haben einen Großteil ihres Vermögens ins westliche Ausland geschafft, den Lebensmittelpunkt ihrer Familie häufig nach London oder an die Cote d’Azur verlegt. Und die Kinder besuchen Internate in der Schweiz oder studieren in Oxford.

Könnten die von Washington angelegten Daumenschrauben die russischen Superreichen nicht zu einem Putsch bewegen oder zumindest zu einem erheblichen Druck auf den Kreml, der zu einem Politikwechsel beiträgt?

Dies ist aus mehreren Gründen sehr unwahrscheinlich:

  1. Die Wirtschaften Russlands und des Westens sind weit weniger miteinander verwoben als noch 2014. Die Sanktionen und die dadurch hervorgerufenen Bemühungen Russlands, die Abhängigkeit vom Westen zu verkleinern haben die Möglichkeiten des Westens Druck auf den Kreml auszuüben deutlich verringert. So betrug das Verhältnis der Auslandsverschuldung (meist bei westlichen Banken) zum BIP zum Jahresanfang 2017 noch 40%, Anfang 2018 waren es 33%.
  2. Russlands Devisen- und Goldreserven übersteigen 500 Mrd. US-Dollar, der Ölpreis ist seit Sommer 2017 deutlich gestiegen, was Russland einen zusätzlichen und unerwarteten hohen zweistelligen Milliardenbetrag in die Kassen spült.

Die Wirtschaftsaussichten bleiben zwar verhalten, aber die Lage ist trotz der Sanktionen positiver als noch vor einigen Monaten.

  1. Die Strafmaßnahmen erhöhen die Abhängigkeit der russischen Oligarchen von der russischen Führung. Sie müssen teils um Unterstützung bitten, zum anderen sinkt der Anreiz, Gelder im westlichen Ausland zu halten oder dorthin zu schaffen, denn ihr Vermögen ist dort offensichtlich nicht so sicher, wie es lange schien.
  2. Die US-Sanktionen spalten den Westen. Einige westliche Länder haben deutliche Kritik geäußert. Falls der Kreml anstreben sollte die euro-atlantische Welt zu spalten kann man sich in Moskau entspannt zurücklehnen: Washington erledigt schon dieses Geschäft.

Im Westen wird gemeinhin erwartet, Druck auf Russland zwinge den Kreml zum Nachgeben. Das Gegenteil trifft jedoch zu. Die Oligarchen werden abhängiger von der politischen Führung und diejenigen, die den Westen weiterhin als Vorbild betrachten werden geschwächt: Je schlechter das westlich-russisches Verhältnis ist, desto schwächer sind die „Westler“ in Russland, denn sie gelten bei der großen Mehrheit als „national unzuverlässig“, als „fünfte Kolonne Washingtons“. Dies ist für die große Mehrheit der Russen ein entscheidendes Kriterium. Russen sind gemeinhin so patriotisch, wie sich das die internationalisierten westlichen Eliten in Politik und Medien gar nicht mehr vorstellen können. Daher fordern sie verstärkten Druck auszuüben, obwohl dies die Bevölkerung, die die Selbstbedienungsmentalität eines großen Teils der Eliten durchaus wahrnimmt, an die Seite der Führung treibt. Einen pro-westlichen Putsch würden die Oligarchen in Russland nicht überleben, weder politisch noch physisch.

Und wenn wir annehmen, die Sanktionen werden noch weiter wesentlich verschärft, was möglich wäre, und dies führt tatsächlich zu einem „regime change“? – Eine solche Zuspitzung strebt ein Teil der westlichen Eliten offensichtlich an, was unverantwortlich ist. –

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der jetzigen russischen Führung eine ausgesprochen „pro-westliche“ folgen könnte.

Verstärkter westlicher Druck dürfte vielmehr dazu führen, dass Russland eine Politik betreibt, die den Westen vor noch größere Herausforderungen stellt. Bei den Präsidentschaftswahlen am 18. März 2018 erzielten die beiden Kandidaten (Sobtschak, Jawlinskij), die eine entgegenkommendere Haltung gegenüber dem Westen fordern unter 3% der Stimmen. Kandidaten, die vom Kreml eine härtere Haltung fordern, jedoch fast 20%. Im Falle eines Machtwechsels ist eine nationalistischere Politik wahrscheinlicher als eine pro-westliche.

Die Russlandpolitik der vergangenen Jahre schwächt weltweit das Prestige des Westens, weil sie hilflos wirkt und erfolglos ist. Sie stärkt tendenziell die russischen Hardliner und schwächt die „Westler“. Und sie treibt ein geschwächtes aber erbittertes Russland an die Seite Chinas, des einzigen Landes, das die globale Dominanz des Westens beenden könnte.

 

Quellen der Folien:

1 https://c.finanzen.net/cst/FinanzenDe/chart.aspx?instruments=300002,5,0,333&style=mountain_oneyear&period=OneYear&timezone=W.%20Europe%20Standard%20Time

2 Quelle: repräsentative Umfrage des Lewada-Zentrums vom 19. – 22. Mai 2017, <https://www.levada.ru/2017/06/05/druzya-i-vragi-rossii-2/>, 5. Juni 2017.

In: Russland-Analysen 354, S. 6

3 ebd., S.7

2 Gedanken zu „Will der Westen einen Regimewechsel in Russland?“

  1. Vielen Dank für diese geopolitische, sehr fundierte und überzeugende Darstellung!

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