Die Ukraine zwischen Russland und dem Westen. Erster Teil: Bis in den Herbst 2004

Die Ukraine hielt seit Beginn ihrer Unabhängigkeit Ende 1991 eine gewisse Distanz zu Moskau und zur GUS. Kiew erklärte bereits 1994, der EU beitreten zu wollen. Diese Absicht war nicht nur das Ergebnis einer weltanschaulichen Überzeugung, sondern auch durch den absehbaren EU-Beitritt der westlichen Nachbarn bedingt, mit denen zuvor gesonderte Handelsvereinbarungen bestanden hatten. Die Ukraine war darüber hinaus das erste GUS-Land, das mit der NATO kooperierte. 2002 deutete der damalige Präsident Leonid Kutschma an, dass sein Land Mitglied werden könnte. Auf der anderen Seite pflegte die Kiewer Führung intensive, wenn auch nicht konfliktfreie Beziehungen mit dem Kreml.

Mit dem NATO-Beitritt der beiden Nachbarn Polen und Ungarn im Jahre 1999 und der anstehenden Ostausdehnung der Europäischen Union wuchsen die Interessen sowie die Einflussmöglichkeiten und die Anziehungskraft des Westens. Auf der anderen Seite gewann Moskau seit dem Amtsantritt Wladimir Putins als Präsident im Jahre 2000 an Stärke zurück und zeigte eine größere Verlässlichkeit als in den 1990er Jahren. Folglich wurde eine engere Kooperation mit Russland nicht nur möglich, sondern erschien auch zunehmend attraktiv. Die Kiewer Außenpolitik zeigte sich entsprechend der wachsenden Anziehungskraft der Magnete westlich und östlich der Grenzen des Landes zunehmend sprunghaft. So ersetzte Präsident Kutschma im November 2002 den nationaldemokratischen Ministerpräsidenten Wiktor Juschtschenko, der erklärtermaßen dem Westen zuneigte, durch den russischsprachigen Ostukrainer Wiktor Janukowitsch.

(Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a3/Europe_location_UKR.png?uselang=ru)

Im Frühjahr 2003 hingegen dekretierte er gegen nachdrücklichen innenpolitischen Widerstand die Entsendung eines ukrainischen Truppenkontingents in den Irak, um die USA zu unterstützen. Russland, sowie Deutschland und die Mehrzahl der Staaten der Weltgemeinschaft hatten sich dem Kriegsausbruch bekanntlich unerwartet nachdrücklich entgegen gestemmt.

Im September 2003 schien sich die Waage wieder zugunsten Moskaus zu neigen. Beide Seiten einigten sich auf die Schaffung eines „Einheitlichen Wirtschaftsraums“, der auch Weißrussland und Kasachstan umfassen sollte. Es gab Stimmen, insbesondere im Kreml, dass dies der Beginn eines weitreichenden Integrationsprozesses im GUS-Raum sein werde. In der Ukraine erhob sich jedoch Widerspruch gegen die Vereinbarung, da Russland einen zu großen Einfluss auf die Geschicke des Landes gewinnen könne. Präsident Kutschma erklärte daraufhin bereits wenige Tage später, dass die Ukraine sich nur in dem Maße am Vorhaben beteiligen würde, wie es mit der Gesetzgebung des Landes vereinbar sei.

Diese deutliche Relativierung der Integrationsbereitschaft der Ukraine hing auch mit westlichen Vorbehalten zusammen. So warnte der damalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen, dass die Realisierung des Einheitlichen Wirtschaftsraums die Integration der Ukraine in Strukturen der EU erschweren könne. Die USA forderten das Land wiederholt auf, sich in die westeuropäische und nordatlantische Richtung zu bewegen.

Selbst die traditionell Russland zuneigende Kommunistische Partei der Ukraine lehnte seit dem Herbst 2003 eine mögliche EU-Mitgliedschaft des Landes nicht mehr grundsätzlich ab, und auch von offizieller ukrainischer Seite gab es Anzeichen fortschreitender Abnabelung vom großen ostslawischen Nachbarn Russland. Im Frühsommer 2004 schien die Ukraine noch deutlicher Richtung Westen zu neigen. Im Juni verabschiedete Kiew eine neue Militärdoktrin, in der die Ziele der EU- und NATO-Mitgliedschaft festgeschrieben wurden. Wenige Tage darauf erklärte Kutschma aber wieder, dass die Ukraine vorerst keinen NATO-Beitritt anstrebe, was in Anbetracht des Zustandes der Streitkräfte auch kaum möglich gewesen wäre. Ende Juli sagte der Präsident, dass sein Land auch keinen EU-Beitritt beabsichtige – kurze Zeit vor einem Treffen mit Putin. Die Ukraine erklärte aber immerhin, dass sie eine „euro-atlantische Integration“ anstrebe.

Die Kiewer Politiker waren auch im Spätsommer 2004 für überraschende und abrupte Kehrtwendungen gut: Im August hielt sich der US-amerikanische Verteidigungsminister in Kiew auf und erklärte, dass die USA „einen konstruktiven Weg der Ukraine in die euro-atlantischen Strukturen unterstützen“. Daraufhin brachten die führenden Vertreter der Ukraine die west-östliche Waage ihres Landes wiederum in Bewegung und „bekräftigten“ das „Festhalten“ ihres Landes an der Integration in euro-atlantische Strukturen – gerade noch rechtzeitig vor Beginn des neuen Schuljahres, in dem das Pflichtfach „Die Entscheidung der Ukraine für Europa“ eingeführt wurde. Anfang Oktober 2004 sprach sich Paul Wolfowitz, Staatssekretär im Pentagon und einer der führenden Strategen der Bush-Administration, für eine vollständige Integration der Ukraine in die europäischen Strukturen aus. Anders sei seines Erachtens die Schaffung eines vereinten und freien Europas nicht möglich.

–        Die Fortsetzung folgt in Kürze.